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Opfer

Zumeist schreibe ich ja Stories, die irgendwie lustig sind oder zumindest mit einem dicken Augenzwinkern versehen sind. Heute mal nicht. Seit Tagen und Wochen höre und lese ich in den News aus aller Welt und glaubt mir normalerweise halt ich mich zurück, ich halte meinen Mund, diesmal nicht. Einerseits, weil es mich unfassbar betroffen macht, ich betroffen bin. Mir ist schon klar, dass man sich nie gerne mit schlimmen Dingen auseinandersetzt. Wir schauen nicht gerne hin, wo Leid ist, wo Verzweiflung ist, wo es weh tut. Wir setzten zumeist lieber die rosa Brille auf. Versteht mich richtig, das ist super und mache ich auch gerne. Aber es ist auch wichtig hinzuschauen, eben nicht wegzuschauen und dann den Mund aufzumachen. Genauso wichtig wie nicht mit dem Blick stecken zu bleiben, zu verharren und nicht mehr all das Gute zu sehen. Ja, ich weiß, lustige Stories liest man eben lieber als die, die unter die Haut gehen, weh tun. Dennoch – heute möchte ich gerne einer anderen Emotion freien Lauf lassen, meinem Ärger!

Ich lese, dass ein Pärchen während eines Urlaubsspazierganges am Strand überfallen wird. Er bewusstlos geschlagen, sie zusammengeschlagen und vergewaltigt. Eine Frau wird unter Tags beim Joggen ebenso geschlagen und vergewaltigt. Den gesamten Sommer über, fast ausnahmslos jeden Tag eine Meldung aus einem anderen Freibad die Meldung, dass ein Kind / eine Frau sexuell belästigt oder missbraucht wird. Eine Frau die in einer U-Bahnstation misshandelt wird.

Von all dem anderen Grausamkeiten, Widerwertigkeiten möchte ich im Augenblick gar nichts mehr sagen. Aber nicht nur, dass ich mich wundere und gleichsam zu tiefst traurig bin, wohin wir uns als MENSCHEN bewegen, macht es mich unendlich wütend, was da draußen eigentlich los ist. Nicht, dass es mir nicht bewusst ist, dass Frauen und Kinder schon immer misshandelt wurden, dass weiß ich sehr wohl. Allerdings fand dies früher einerseits hinter geschlossenen Türen statt und andererseits wurde lange Zeit nicht offen darüber gesprochen (und ich begrüße weder das eine noch das andere!).

Also darf mich jetzt laut Medien, zwar frei bewegen, muss aber immer wachsam sein, immer in Alarmbereitschaft. Sicherheitshalber überhole ich niemandem beim joggen, bewege mich immer in größeren Gruppen (Ha!), lasse die Fenster im Hochsommer geschlossen und kleide mich angepasst (was auch immer das bedeutet – man möchte ja kein „Freiwild“ sein – genau). Auch das nur ein kleiner Auszug der gut gemeinten Ratschläge. Klar, dann bin ich zu Hause in Sicherheit. Das Problem ist nur, dass laut Statistik, die meisten Übergriffe noch (Betonung auf noch) zu Hause statt finden.

Und ich muss ehrlich gestehen, habe jetzt die Schnauze voll und zwar gestrichen! Es findet mittlerweile so viel Gewalt statt, dass ich es kaum aushalten, kaum ertragen kann. Das schlimme ist, zumeist wirkt der Kampf vollkommen aussichtslos, als könnte man gar nicht gewinnen. Nicht gegen diese unfassbaren Angriffe, nicht gegen das System, nicht gegen die Justiz (Recht haben und Recht bekommen sind zumeist zwei Dinge). Als gäbe es keine Gerechtigkeit, nicht greifbar und auch nicht so etwas wie ausgleichende Gerechtigkeit. Meine Mutter pflegte zu sagen: „Gottes Mühlen mahlen langsam, aber sie mahlen.“ Tja, Mama da warte ich noch drauf.

Denn die sogenannten „Täter“, werden teils nicht überführt, nicht konfrontiert, noch angeklagt, noch verurteilt. Aber nicht nur das, oftmals funktioniert das „System“ dann so, dass Frauen / Menschen in ihrer (An-)Klage verunklimpft werden. Es sei ja gar nicht so gewesen, das hätte man sich eingebildet, wäre ja alles gar nicht passiert, hätte man sich selbst anders verhalten. Genau! Bullshit!!!! Zusätzlich zu den Gewissensbissen und Schuldgefühlen die man ohnehin schon hat, darf man sich noch konfrontieren mit diesem Mist und zweifelt schließlich an sich selbst. Ich frage mich ja seit Jahren, wie man anderen Menschen, so unfassbare Dinge antun kann und dann aufsteht, sich – wie entspannt?, befreit?, erholt? ..? – in den Spiegel schaut und dieses Bild erträgt?

Ich habe letztens eine Frau im TV gesehen, die gesagt hatte, dass ihr Vergewaltiger 20 Jahre Haft bekommen hätte, sie allerdings Lebenslänglich. Und wisst ihr was, dass stimmt sogar irgendwie. Denn diese und ähnliche Taten graben sich tief in unsere Seele, in unser Bewusstsein ein und sie verändern uns – für immer. Ein Zurück zur Basis gibt es nicht – nicht mehr. Es dauert dieser Dunkelheit, diesem Schmerz, dieser Ohnmacht zu entkommen, bis die Anteile des „anderen“ verschwinden. Aber dann entsteht Wut und diese Wut ist gut, sie hilft uns aufzustehen. Und sie stehen auf, richten sich gerade und kämpfen. Und diese Menschen, sogenannte „Opfer“, ich hasse diesen Ausdruck, denn es ist keineswegs stimmig. Ich war viele Jahre tatsächlich der Meinung, dass man schlimme Dinge getan haben muss, um so schlimme Dinge erleben zu müssen. Nein, definitiv nicht, auch und vor allem guten Menschen passieren üble Dinge. Vielleicht auch, weil genau sie es schaffen, dieses Leid zu überwinden?!  Sie sind überlebende, sie haben schreckliches erlebt und das alles überlebt. Innerlich und äußerlich.

Vor einiger Zeit habe ich gelesen, dass im größten Trauma das wir erleben unsere Berufung steckt. Und tatsächlich viele dieser Überlebenden gründen Vereine, Hilfsgemeinschaften, arbeiten ehrenamtlich und helfen anderen zu überleben. Sie sind stark, sind gewachsen, haben beschlossen, dass sie weiterleben, glücklich sind, denn das und nur das glaubt mir ist die wahre Strafe für die Täter. Die Erkenntnis, dass egal was er oder sie versucht oder gar gemacht hat, ich/wir sind noch da und wir bleiben da. Lebt damit!

She has been through hell, so believe me when I say, fear her when she looks into a fire and smiles. (E.Corona)